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Interview

Zwei Frauen helfen Tausenden Flüchtlingen in Gießen

B. BiewendtFlüchtlinge in HessenFlüchtlinge in Hessen

Gießen ist die wahrscheinlich größte Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Europa. Hier arbeiten im Auftrag des Evangelischen Dekanats Gießen Maria Bethke und Anna Hartnagel. Sie beraten Flüchtlinge bei den Asylverfahren.

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Maria Bethke berät in Gießen Asylbewerber Anna Hartnagel berät in kirchlichem Auftrag Flüchtlinge

In der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (HEAE) leben derzeit rund 6000 Menschen an den zwei Standorten in Gießen und in mehreren Außenstellen, die Zahl steigt weiter rapide an. Die Eröffnung weiterer Aufnahmezentren in Hessen ist in Planung. Auf dem Gelände in Gießen unterhält die Evangelische Kirche ein Beratungsbüro für Asylbewerber.

Mit welchen Schicksalen werden Sie berührt?

Maria Bethke: Menschen, die in der HEAE ankommen, haben häufig einen langen Weg hinter sich. Sie haben gefährliche Grenzen überwunden, zu Fuß, per Flugzeug oder mit Booten tausende Kilometer hinter sich gebracht. Sie stammen aus den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt wie Syrien, Afghanistan, Eritrea oder Somalia.
Menschen kommen aber auch aus den Ländern Europas, die nach langen Jahren gewaltsamer Konflikte die Demokratisierung und den wirtschaftlichen Anschluss an die reicheren Länder des Westens noch nicht geschafft haben.

In der politischen Debatte wird unterschieden zwischen Menschen die vor Krieg oder politischer Verfolgung und denen die vor Armut flüchten, etwa aus dem ehemaligen Jugoslawien. Wie sehen Sie das?

Anna Hartnagel: Auch wenn im ehemaligen Jugoslawien heute kein Krieg mehr herrscht, haben einige Menschen von dort gute Gründe, ihr Heimatland zu verlassen. Viele Länder des Balkans bieten ihren Bürgern bis heute keine Sicherheit und Lebensperspektive.
Bittere Armut, Verelendung und tradierte Verhaltenskodexe, die in Blutfehden, Blutrache und Diskriminierung von Minderheiten führen, zwingen Menschen zu tausenden in die Flucht. Diese Menschen alle pauschal als sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu bezeichnen, greift unserer Meinung nach deshalb zu kurz.

Bethke: Wenn allerdings in der Beratung deutlich wird, dass ein Klient keinerlei Chance im Asylverfahren hat und es auch keine Gründe für die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) gibt, raten wir durchaus auch von einer Asylantragstellung ab oder raten im Falle einer Ablehnung zu einer freiwilligen Ausreise.

Wobei können Sie Flüchtlinge unterstützen?

Hartnagel: Wir informieren die Menschen über den Ablauf des Asylverfahrens und ihre Rechte. Wenn die Verständigung auch auf Englisch nicht klappt, stehen uns ehrenamtliche Übersetzer zur Seite.
Wir begegnen Menschen aus vielen Nationen und Sprachen. Hauptsächlich stammen die Menschen, die unsere Beratung aufsuchen, jedoch aus Ostafrika (Somalia, Eritrea und Äthiopien) und dem Nahen und Mittleren Osten, also Syrien, Afghanistan, Pakistan und dem Irak. Darüber hinaus finden einige Menschen aus den Balkanstaaten und nordafrikanischen Ländern den Weg in unsere offene Sprechstunde.

Die Asylberatung umfasst neben der rein informativen Aufklärung über das Asylverfahren auch konkrete Krisenintervention. Wenn Asylanträge abgelehnt wurden, Abschiebungen bevorstehen oder Zugänge zu Hilfeleistungen wie medizinischer Versorgung oder Unterhaltszahlungen von den Behörden verwehrt werden, versuchen wir - oft auch mit Hilfe von Rechtsanwälten - Änderungen zu erwirken und Lösungen zu finden.

Welche Rolle spielt die Kirche bei der Beratung der Flüchtlinge?

Bethke: Während die Beratung asylsuchender Menschen in anderen Bundesländern vom Land selbst finanziert wird, stellt das Land Hessen für diesen Bereich keine Mittel zur Verfügung.
Dass es in vielen Landkreisen trotzdem Berater gibt, die hauptamtlich Flüchtlinge durch das Asylverfahren begleiten, ist den - insbesondere evangelischen - kirchlichen Trägern zu verdanken. Sie sind eingesprungen, um diese Versorgungslücke zu schließen.
Trotzdem sind einige Regionen im ländlichen Raum Hessens bis heute leider für Asylbewerber beratungsfreie Zone.

Zwei Beraterinnen in Gießen für aktuell über 6000  Flüchtlinge. Auch das scheint nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein zu sein.

Bethke: Studierende der Universität Gießen, die dort Kenntnisse im Asylrecht erworben haben, bieten in der HEAE wöchentliche Info-Abende mit allgemeinen Informationen zum Asylverfahren an.

Für die Einzelfallberatung zum Asylverfahren stehen derzeit aber nur wir beide zur Verfügung, wir teilen uns dafür 1,3 Stellen. Dabei stehen wir mehr als 6000 Neuankömmlingen gegenüber, die Beratung brauchen. Hinzu kommen all die Menschen, die aus den verschiedenen Landkreisen Hessens nach Gießen zurückkehren, da sie am Ort ihrer Zuweisung keine angemessenen Beratungsstrukturen vorfinden. Es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass die Grenzen des Leistbaren weit überschritten sind.

Können Sie angesichts dieser Zahlen überhaupt helfen?

Hartnagel: Glücklich schätzen können sich diejenigen, die früher oder später den Weg in das kleine Beratungsbüro im Haus sieben auf dem Gelände im Meisenbornweg gefunden haben. Denn bei denen, die sich hilfesuchend an uns wenden, sind die Erfolgschancen gut. Ihnen kann in ihrer spezifischen Situation geholfen werden. Ob ihre Flucht in Hessen ein Ende findet, wird sich bei den meisten erst noch zeigen müssen.

Die Anerkennungsquoten bei Asylsuchenden aus den Balkanstaaten sind niedrig. Aber auch die Zukunft derer, deren Asylbegehren anerkannt wird, ist oft ungewiss.
Es gilt ja das sogenannte „Dublin-Verfahren“, nachdem Flüchtlinge in den europäischen Staat gehen müssen, in dem sie zuerst Asyl beantragt haben oder der zumindest ihre Einreise in den „Schengen-Raum“ nicht verhindert hat, unabhängig davon, wo etwa Familienangehörige untergekommen sind.

Wird denn eigentlich die Gießener Stelle des Bundesamtes für Flüchtlinge der wachsenden Zahl von Menschen gerecht? 

Bethke: Zu spät haben die Verwaltungsapparate auf die steigenden - und durchaus absehbaren - Asylbewerberzahlen reagiert. Zu groß ist jetzt der Rückstau bei der Registrierung und der Bearbeitung der Asylverfahren, so dass Verfahrensdauern von zwei bis drei Jahren keine Seltenheit mehr sind.

Ob beispielsweise Flüchtlingen eine Abschiebung ins Heimatland oder einen anderen europäischen Staat droht, erfahren die meisten nicht während ihrer Aufenthaltszeit in der HEAE. Während der hiesigen Unterbringung von maximal drei Monaten kann zurzeit nicht einmal garantiert werden, dass die Bewohner der Erstaufnahmeeinrichtung überhaupt als Asylantragsteller registriert werden können.

Wie halten die Menschen nach Monaten, oft Jahren der Flucht die ungewisse Situation aus?

Hartnagel: Diese Situation der Unsicherheit und des Bangens bringt viele erneut an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Umso wichtiger ist an dieser Stelle der Zugang zu qualifizierter Beratung und psycho-sozialer Betreuung.
Eine Aufgabe, die ohne die Unterstützung hunderter Ehrenamtlicher im Landkreis Gießen nicht zu bewerkstelligen wäre. Sie zeigen sich vor Ort solidarisch mit den Schicksalen ihrer Schützlinge. Sie bessern an all den Stellen aus, an denen der Staat seiner Fürsorgepflicht nicht ausreichend nachkommt. Und sorgen somit dafür, dass die Menschen sich hoffentlich auch in Zukunft in Hessen willkommen fühlen.

Das Interview führte Matthias Hartmann.

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